Albert Bitzius: Leben und Werk
Jeremias Gotthelf (1797–1854)
Leben und Werk von Jeremias Gotthelf sind geprägt von liberalen Idealen, die 1831 in die Berner Verfassung eingingen. An deren Versprechen, der Souveränität eines mündigen Volkes und der sozialen Verantwortung aller Schichten im Rahmen einer christlichen Soziallehre, richtete sich Gotthelf, gemäss seinem Selbstverständnis als christlicher Republikaner, zeitlebens aus. Nicht nur seine politischen Zeitungsartikel und Kalenderschriften, sondern auch die frühen Romane, der Bauernspiegel und Leiden und Freuden eines Schulmeisters, dokumentieren den liberalen Reformeifer. Gotthelfs satirisches Talent wurde, ähnlich wie das Heinrich Heines, durch unfähige Regenten und Beamten gereizt.
Immer mehr wurde Gotthelf auch zum Mahner vor Fehlentwicklungen der Schweiz auf dem Weg zum Bundesstaat. Von den Leitlinien radikaler Politik – Umverteilung des Besitzes und hohe staatliche Sozialausgaben – distanzierte sich Gotthelf, da ihn kirchenfeindliche Äusserungen der Radikalen und der von ihnen geschürte Antagonismus zu den konservativ-katholischen Kantonen tief beunruhigten. Seine Karikaturen einer fortschrittsversessenen Politik ohne Moralmasstäbe brachten den Pfarrer von Lützelflüh bei Berner Lesern in Misskredit. Das deutsche Lesepublikum schätzte indes seine Darstellungen der bäuerlichen Welt, je mehr sie in Kontrast zum industriellen Zeitalter zu rücken schienen.
Heute faszinieren Gotthelfs Entwicklungsromane und Familiengeschichten gerade als Spiegelbilder bedrohter Idylle. Drastische Charakterzeichnung, Politikerschelte und tiefgründige sozialpsychologische Porträts sind typisch für den Realismus seiner Zeitromane, die Gottfried Keller deswegen bewunderte. Die raffinierte Erzählkunst der Spätromantik zeichnet eher Gotthelfs historische Novellen aus. Dort projizierte er in phantastischen Bildern und apokalyptischen Kommentaren aktuelle Konflikte auf die scheinbar urwüchsige Schweiz des Mittelalters.