Dr. Alfred Reber (10.05.1932–8.01.2024)
Nachruf von Barbara Mahlmann-Bauer
Am 8. Januar ist Alfred Reber in seiner Wohnung im Domizil Alexandra nach einer vier Wochen andauernden Erkrankung friedlich gestorben. Es trauern um ihn seine vier Kinder und sieben Enkel mit ihren Familien.
Wir trauern um einen der profundesten Kenner Jeremias Gotthelfs und seiner Werke. Alfred Reber hat sich, aufgrund lebenslanger Erfahrung mit den Originaltexten Gotthelfs, seit 2004 beim damaligen Erziehungsdirektor des Kantons Bern Mario Annoni energisch für unseren Plan einer historisch-kritischen Gesamtausgabe der Werke Jeremias Gotthelfs (HKG) eingesetzt. Er hat das Entstehen der ersten Bände mit seiner Sachkenntnis begleitet und für das Konzept der HKG mit seinen Büchern seit 2004 geworben.
Seine Berner Dissertation Stil und Bedeutung des Gesprächs im Werke Jeremias Gotthelfs, 1967 publiziert und 2019 im de Gruyter-Verlag nachgedruckt, setzte Massstäbe für künftige Werkanalysen. Alfred Reber hat sich in zahlreichen Vorträgen, Aufsätzen und Büchern mit der Lebenswirklichkeit und dem Erzählkosmos Gotthelfs auseinandergesetzt. Als hätte er geahnt, dass die Krankheit seiner Ehefrau Eliane und die schwindende Sehkraft künftig wissenschaftliches Arbeiten nicht mehr zulassen würde, überarbeitete er 2015 eine Auswahl seiner Gotthelf-Vorträge und Aufsätze in Form einer Monographie mit dem Titel Zur Liebe ist das menschliche Herz geschaffen. Sein letztes Buch ist der Höhepunkt seines dem Schriftsteller Jeremias Gotthelf gewidmeten Schaffens. Zugleich ist Rebers Darstellung von Bitzius‘ christlich inspirierter Lebensphilosophie sein Schwanengesang, eine Summe seiner Gotthelf-Forschungen, nicht zuletzt seiner Mission als Deutschlehrer, Seminardirektor und Schulleiter, der die Aktualität des Volksschriftstellers aufzuzeigen bemüht war.
Seit 1965 unterrichtete Alfred Reber an der Höheren Mädchenschule Marzili in Bern. Ab 1969 leitete er dort die Fortbildungsabteilung und war Stellvertreter des Direktors. Von 1972 an lehrte Reber zusätzlich als Dozent für das Sekundarlehramt an der Universität Bern das Fach Deutsche Literatur. 1975 wurde er zum Direktor der Marzili-Schule gewählt. Die Jahre von 1988 bis zur Pensionierung 1994, als er deutsche Literatur unterrichtete, betrachtet Reber als die schönsten, weil sie ihm Zeit für seine Forschungen gab. In zahlreichen Vorträgen und Lesungen faszinierte Alfred Reber eine breite Öffentlichkeit. Die Folge war, dass er in die Schulkommission der Kirchlich-theologischen Schule Bern und in den Stiftungsrat der Rotkreuz-Stiftung im Berner Lindenhofspital gewählt wurde. 1999 trat er in den Vorstand des Vereins Gotthelf-Stube Lützelflüh ein und leitete ihn 2003-2004 als Präsident. Von 2000 bis 2009 gestaltete er die wechselnden Ausstellungen des Vereins im Spycher des Pfarrhauses. Dabei kam ihm seine Kompetenz im Umgang mit computergesteuerten Editionsprogrammen zugute. Imposant ist die Liste der Ausstellungen, die er seit 2000 in Lützelflüh organisiert hat.
- 2000 Zur Wassernot im Emmenthal
- 2002 Gotthelf und die religiöse Erziehung
- 2003 Stadt und Land, Mensch und Arbeit im Werk Gotthelfs, mit Illustrationen von Emil Zbinden
- 2004 Die Natur – der Spiegel Gottes. Zeichnungen aus der Familie Bitzius
- 2005 Der Wandel der bäuerlichen Welt im Spiegel von Gotthelfs Werk
- 2006 Der Knabe des Tell
- 2007 Elsi die seltsame Magd und andere Geschichten aus dem ‚Übergang‘ der ‚Franzosenzeit‘
- 2008 zusammen mit Christian von Zimmermann und seinem Editionsteam: Der Neue Berner-Kalender
- 2009 zusammen mit Barbara Mahlmann-Bauer und ihrem Editionsteam: Gotthelf und die Schule.
Mit „Gotthelfs Gäste“, einer Auswertung des von Bitzius und seiner Ehefrau geführten Gästebuchs der Besucher im Pfarrhaus, schufen Alfred Reber und Hans Riedhäuser ein Grundlagenwerk, in dem Bitzius erstmals als politisch zielstrebiger Networker in Sachen Volksschulbildung und Armenwesen in Erscheinung tritt.1 Vom April 1832 bis in den Juli 1850 führten Jeremias Gotthelf und seine Frau Henriette Bitzius-Zeender Besucherverzeichnisse. Von rund 200 Besuchen im Durchschnitt der ersten Jahre kletterte die Zahl auf 502 im Jahr 1849. In den gut 18 Jahren werden total 5686 Besuche gezählt, verteilt auf rund 440 Personen; darin nicht eingeschlossen sind Leute, die eine Taufe, eine Trauung oder einen Todesfall anmelden wollten.
Die trockenen Zahlen sagen viel, aber noch nicht das Wichtigste. Briefausschnitte und andere Quellentexte zeigen die Besucher im Dialog mit Gotthelf. Er nahm Anteil an der Not seiner Besucher, half jungen Lehrern und warb unablässig für die Armenerziehung; er war offenherzig gegenüber seinen Freunden und unnachsichtig in der Auseinandersetzung mit nachlässigen Amtsträgern, ungerechten Magnaten und politischen Gegnern. Die Besucherverzeichnisse zusammen mit den von Reber und Riedhäuser ausgewählten Briefen und Quellen liefern handfeste Argumente gegen den gedankenlos kolportierten Vorwurf, Gotthelf sei ein Reaktionär. Wer so wie er gegen das pädagogische „Establishment“ auftrat und mit Gleichgesinnten eine private Armenerziehungsanstalt managte, übernahm Verantwortung für die Lösung der ‚sozialen Frage‘.
Den Zugang zu Gotthelfs Erzählkosmos fand Alfred Reber über die berufsbezogenen und historisch-politischen Kontexte. Dieser Ansatz bewährte sich in zwei Sammlungen mit Erzählungen Jeremias Gotthelfs, die Reber mit werkgeschichtlichen Kommentaren, Quellen und Sachtexten 2007 und 2011 herausgegeben hat. Elsi die seltsame Magd und andere Geschichten aus dem Übergangsjahr 1798 und Fünf Geschichten rund um Geld und Geiz, Gier und Gewalt, aber auch um Glauben, Geduld und Gemeinsinn werden im originalen Wortlaut nach den Erstausgaben abgedruckt und mit Abbildungen der Zeit illustriert. Hilfreich sind Rebers Sacherläuterungen, z.B. zur „Hungerkrise 1816/17“, zum Bewässerungssystem und zu den Münzen, die zu Gotthelfs Zeit gebräuchlich waren.
Zur Liebe ist das menschliche Herz geschaffen – mit diesem Motto aus einer Predigt Gotthelfs fasste Alfred Reber dessen praktische Philosophie als Pfarrer, Pädagoge und Volksschriftsteller in zehn Kapiteln zusammen. Immer wieder kommt der Romanschriftsteller und Prediger selbst zu Wort. Um Gotthelfs Aussagen zu den drängenden sozialen und politischen Fragen seiner Zeit verständlich zu machen, berücksichtigt Reber gleichermassen Zeitungstexte, Schulbücher, Gesangbücher, Werke Pestalozzis und das zeitgenössische Schrifttum und Bildmaterial zum Schul- und Armenwesen, so wie er es bei seinen Ausstellungen in Lützelflüh gewohnt war. Reber gewährt Einblick in alle Lebens- und Arbeitsbereiche des politisch aufmüpfigen Vikars und umtriebigen Pfarrers. In den frühesten Predigten sorge sich Bitzius um die Kindererziehung und um die Nöte der Verarmten. Als Prediger, in Visitationen und Eingaben habe er sich „für Verbesserungen im Schul- und Bildungswesen“ eingesetzt (S. 55). Dem bibelgestützten Geschichtsbild Gotthelfs kommt Reber nicht nur in den Romanen auf die Spur, sondern auch im reichhaltigen Corpus der Predigten von 1818 bis 1830. Alfred Reber ist einer der ersten Forscher außerhalb unseres Berner Editionsteams, der die historisch-kritisch edierten Predigttexte (HKG E 1.1-3) im Hinblick auf Themen, die den Volksschriftsteller ein Leben lang beschäftigten, auf Rhetorik und Stil, sein Menschenbild und seine praktische Theologie ausgeschöpft hat. Predigten, die Bitzius an Wendepunkten der Berner Politik und seiner beruflichen Karriere gehalten hat, kommentieren Reber zufolge das Zeitgeschehen. Rebers Zitate zeigen, wie die Predigten soziale Konflikte offenlegten und sachkundig konkrete, keineswegs nur pastoraltheologische Besserungsmaßnahmen empfahlen. Bitzius habe das Medium der Sonntagspredigt genutzt, um für das Programm des liberalen Staats zu werben, ohne Reizwörter wie „Patrizier“ oder „gnädige Herren“ zu verwenden (S. 187). Diese Methode politischer Erziehung mit der Bibel als Korrektiv habe Gotthelf in seinem literarischen Werk fortgesetzt, an fiktiven Fallbeispielen, die meist Opfer politischer und sozialer Missstände seien. Aus Rebers Sicht war Bitzius ein Prophet drohender politischer und ökologischer Katastrophen, unter denen vor allem sozial Benachteiligte litten. Der Erzähler habe seine Hoffnung auf die Bindekraft des Glaubens und der christlichen Lehre gesetzt. Die von Gotthelf geschilderten Karrieren von Peter Käser, Ueli, Jakobli Jowäger, von Fritz und seinem Schatz Änneli zeigen, daß Gemeinsinn, Verantwortung für die Familie und die soziale Dorfgemeinschaft gemäß christlichen Normen erlernbar und gerade in Zeiten des Übergangs und wirtschaftlicher Unsicherheit höchst nötig seien. Zu diesem Schluss kommt Alfred Reber in seinen Werkanalysen zu Leiden und Freuden eines Schulmeisters, Uli der Knecht, Anne Bäbi Jowäger und zur Käserei in der Vehfreude.
Wir halten das Andenken an die Forscherpersönlichkeit und den liebenswerten, hilfsbereiten Menschen Alfred Reber in Ehren.