Forschungsstelle Jeremias Gotthelf

2023

September 2023

Silvio Raciti: Wilhelm Tell als christlicher Hausvater in Jeremias Gotthelfs "Der Knabe des Tell". – Jeremias Gotthelfs historische Erzählung für die Jugend "Der Knabe des Tell" (Berlin: Julius Springer, 1846) ist vor dem Hintergrund der diskursiven, politischen und kriegerischen Auseinandersetzungen um die Gestaltung der Schweizer Nation in den 1840er-Jahren zu lesen. Gotthelf rückt Tells Sohn, als Identifikationsfigur für Jugendliche, ins Zentrum der Geschichte und lässt ihn schliesslich in der Schlacht am Morgarten den Heldentod sterben. Die christliche Erziehung des Sohns durch den vorbildlichen Hausvater wird zur wahren Meisterleistung Tells stilisiert. Die Umformung des Mythos entschärft in christlicher Perspektive die Problematik der Tell-Geschichte für den nationalen Mythos. Die Schweizer Nation gründet so nicht auf einem Tyrannenmord, aber auf dem intakten christlichen Haus, das die Grundlage für politische Partizipation im republikanischen Gemeinwesen sowie für Heldenmut und Aufopferungsbereitschaft für die nationale Gemeinschaft bildet. Diese einfache, sich wiederholende Botschaft des Werkes, welche von der zeitgenössischen Jugend durchaus zu verstehen war, ist mit Sticheleien und Seitenhieben gegen radikal-liberale Parteiführer im Kanton Bern durchsetzt. (erschienen in: Guillaume Tell, mythe politique et icône culturelle. Hg. v. Jean-François Candoni, Isabelle Ruiz und Alexis Tautou. Strasbourg: Presses Universitaires 2023)

August 2023

An der Zentralbibliothek Zürich führte die Forschungsstelle Jeremias Gotthelf an zwei intensiven Tagen eine Summer School mit vielen Inputs durch. Das Spektrum der Themen in der digitalen Editorik war breit und reichte von praxisnahen Einführungen in die TEI-Grundlagen bis hin zu komplexen Fragen der Usability und Vernetzung der Editionen. In einer sehr positiv erlebten Grundstimmung wurden reflektierte und teils auch kritische Blicke auf den Stand der Entwicklung gelegt. Die digitale Editorik wartet auf einen Innovationsschub in der nächsten Generation von philologisch und historisch ausgebildeten Editionsspezialist*innen, welche die digitale Entwicklung innovativ vorantreiben. Dann werden auch im Netz künftig die hohen philologischen Standards der Textphilologie, der Kommentierung und der hermeneutisch abgesicherten Informationsqualität noch besser umgesetzt werden können. Den beiden Organisatoren an der Zentralbibliothek Zürich, Dr. Elias Kreyenbühl und PD Dr. Jesko Reiling, sei herzlich gedankt. Das Programm wurde bestritten von Mitgliedern der Forschungsstelle Jeremias Gotthelf: Karin Aeschlimann, Hanne Grießmann, Dr. Manuela Heiniger, Dr. Silvio Raciti, Dr. Roland Reichen, Dr. Patricia Zihlmann, PD Dr. Christian von Zimmermann. In spannenden Abendvorträgen von Stefan Dumont (Berlin) und Dr. Maria Effinger (Heidelberg) wurden zudem Einblicke in Fragen der Offenheit von digitalen Editionen sowie der Entwicklung der Universitätsbibliotheken im digitalen Zeitalter zu Informations- und Publishing-Zentren gegeben. Dr. des. Yann Stricker und Reto Baumgartner ergänzten das Tagungsprogramm mit Einblicken in die Zürcher Infrastruktur. Den Teilnehmer*innen aus Deutschland und der Schweiz sei für Ihr Engagement sehr gedankt. Nicht alle, die wollten, konnten einen Platz erhalten. der Andrang war so gross, dass wir eine Wiederholung der Summer School sehr ernsthaft in Erwägung ziehen.

Juni 2023

Mit dem Band 4.1 der Berner «Historisch-kritischen Gesamtausgabe» der Werke und Briefe von Jeremias Gotthelf liegt einer der bekanntesten Romane von Jeremias Gotthelf nun in einer 628 Seiten umfassenden Neuedition vor: «Wie Anne Bäbi Jowäger haushaltet und wie es ihm mit dem Doktern geht». Die Edition von Katharina Blank und Christian von Zimmermann folgt dem Text der Erstausgabe von 1843 und verzeichnet die Varianten der zweiten Ausgabe von 1854.

Mai 2023

Oliver Käsermann: Trinkerinnen und Trinker. Zum Wandel eines biographischen Narrativs in Novellen des 19. Jahrhunderts. – Im Juli erscheint die Dissertation "Trinkerinnen und Trinker", die Dr. Oliver Käsermann als Mitarbeiter an der Forschungsstelle Jeremias Gotthelf vorgelegt hat. Mitglieder von Mässigkeits- bzw. Abstinenzvereinen, die seit der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts im deutschsprachigen Raum aktiv waren, deklarierten das Trinken als Ursache praktisch aller Übel. Die soziale Ungleichheit, der moralische Zerfall sowie körperliche und psychische Krankheiten wurden fortan durch den Alkoholkonsum erklärt. Von dieser Antialkoholrhetorik blieb die Literatur nicht unberührt. So zeigen sich in vielen Lebensbeschreibungen trinkender Figuren Einflüsse des ausserliterarischen Alkoholdiskurses. Oliver Käsermann untersucht solche Lebensbeschreibungen in 13 Novellen – von J. Gotthelf, A. von Droste-Hülshoff, Th. Storm, P. Heyse, A. Schnitzler u.a. – und rekonstruiert daraus ein übergeordnetes Erzählmuster, das er „Biographisches Narrativ der Trinkerinnen und Trinker“ nennt. Mit diesem Narrativ als Schnittstelle kann eine Methode zur Untersuchung des Verhältnisses zwischen literarischen und ausserliterarischen Diskursen aufgezeigt und exemplarisch erprobt werden.

Mai 2023

Literatur und ihre Institutionen. Deutschschweizer Literatur zwischen Heteronomie und Autonomie. Hg. v. Dominik Müller, Ralph Müller, Daniel Rothenbühler und Hubert Thüring. Zürich: Chronos 2023.
In ihrem Beitrag untersucht Patricia Zihlmann exemplarisch Erzähl- und publizistische Texte sowie amtliche Schriftstücke des bernischen Pfarrerdichters Jeremias Gotthelf/Albert Bitzius, grösstenteils aus den 1830er-Jahren. Darin zeigt sich, welche Bedeutung er Gemeindevorstehern für den wirtschaftlichen Erfolg und die Akzeptanz des Gemeinde- und Staatswesens durch die Einwohnerschaft beimisst. Als Voraussetzungen für eine ›gute‹ Amtsführung nennt Gotthelf den tugendhaften Charakter von Amtsträgern und die Unterstützung durch übergeordnete Behörden, die er in den Visitationsberichten zunehmend als zu gering bezeichnet. In seiner Korrespondenz als Pfarrer und als Aktuar des örtlichen Sittengerichts lassen sich Schwierigkeiten der bernischen Verwaltung nach dem liberalen Umbruch erkennen, etwa dann wenn Bitzius unklare oder sich widersprechende Kompetenz- und Kommunikationsregelungen kritisiert, die Arbeiten verzögern oder eine Amtsausübung erschweren. Dem Pfarrer weist er eine herausragende Bedeutung zu, die nur teilweise mit der pfarrerlichen Berufung zusammenhängt. Die Schriftstücke zeichnen ein Bild des Pfarrers als eines Mittlers zwischen verschiedenen Interessen und Gruppen und als eines Kenners der örtlichen Verhältnisse sowie der bernischen Gesetzgebung. Das Pfarrhaus selbst wird in die Nähe eines Archivs gerückt.

April 2023

Lilli Hallers Erzählungen in neuer Edition: Das Erzählwerk der Schweizer Autorin Lilli Haller (1874–1935) strotzt vor weiblichen Figuren, die ihren eigenen Weg gehen. Das Augenmerk auf diese Frauenfiguren gerichtet, macht die Edition das vergessene novellistische Werk der Autorin wieder zugänglich. Die literarischen Werke der Berner Germanistin Lilli Haller, die einst bei Oscar Walzer mit einer Arbeit über Gotthelfs Erzähltechnik promoviert wurde, ist von der Berner Germanistin Loriana Zeltner wiederentdeckt worden, die Lilli Haller bereits ihre Masterarbeit widmete und an der Forschungsstelle Jeremias Gotthelf editionsphilologische Erfahrungen gesammelt hat. Lilli Haller verfasste in der Zeitspanne von 1912 bis 1920 eine Reihe von Kurzerzählungen. Heute sind davon fünfzehn überliefert. Die Edition stellt fünf ausgewählte Novellen vor: «Wie Lehmann ein Mensch sein wollte», «Die Frau Major», «Der Mord auf dem Dorfe», «Die Frau Vorsteherin» und «Tante Röschens Vermächtnis». Die fünf Erzählungen springen zwischen Schauplätzen in der Schweiz und in Russland hin und her. Detailreich und mit mundartlichem Charme erzählen die Texte Frauenleben im frühen 20. Jahrhundert – von der ehrgeizigen Vorsteherin eines Mädchengymnasiums in Jalta über eine Gruppe betagter Damen im Berner Burgerspital bis hin zum Mordfall im russischen Gutsdorf Torschok. Dabei werden Gegensätze zum gemeinsamen Nenner der Texte, denn in allen stellt die Autorin einer männlichen Perspektive auf einen bestimmten Sachverhalt eine weibliche Perspektive gegenüber – mit unterschiedlichem Ausgang. Die Texte überzeugen mit einem sympathischen, teils skurrilen Figureninventar und fliessenden Wechseln von narrativen und reflektierenden Elementen. Nicht zuletzt zeichnet sich in den Erzählungen der Blick einer Schweizerin auf das Russland der Jahrhundertwende ab. (Lilli Haller: Ausgewählte Erzählungen. Hg. von Loriana Zeltner. Zürich 2023, Reihe: Schweizer Texte).

März 2023

Menschsein als Lebensaufgabe: Jeremias Gotthelf ruft in seinen Predigten wiederholt zur Bekehrung auf, die auch in seinen Romanen bei Figuren wie Mias im "Bauernspiegel", Kurt in "Kurt von Koppigen" oder Jacob in "Jacobs, des Handwerksgesellen Wanderungen durch die Schweiz" an zentraler Stelle der Handlung steht. Die vorliegende Studie zeigt auf, dass für den aufklärungstheologisch geprägten Gotthelf eine Besserung ohne Bekehrung nicht möglich ist, und das heisst letztlich: dass der Mensch erst durch die Bekehrung in die Lage versetzt wird, sein Menschsein zu verwirklichen. Im Zentrum der Monographie steht das Konzept der Bekehrung in Gotthelfs Predigten und Erzählwerk in seiner Bedeutung für seine christliche Anthropologie. Sie bezieht dafür literaturwissenschaftliche, theologische und religionssoziologische Betrachtungsweisen ein. Die untersuchten Texte werden dabei in ihren spezifischen medialen und rhetorischen Kontext als Predigten oder Erzählungen gestellt und zeitlich verortet. Damit wird es möglich, zwischen den Aussageweisen der verschiedenen Textgattungen zu differenzieren sowie eine mögliche chronologische Entwicklung von Gotthelfs Bekehrungskonzept auszumachen. Auf diesem Hintergrund erfolgt eine theologische Einordnung Gotthelfs in die geistige Umwelt, die ihn der spätaufklärerischen Strömung des theologischen Rationalismus zuordnet. Die Dissertation von Kathrin Schmid entstand an der Forschungsstelle Jeremias Gotthelf. Mit dieser Arbeit erhält die längst überfällige theologische Aufarbeitung der Werke von Gotthelf einen wichtigen Impuls.