Forschungsstelle Jeremias Gotthelf

2021

Juni 2021

Der erste Teil der Uli-Romane: Die 1830er-Jahre waren im bernerischen Emmental eine soziale Krisenzeit. Die große Mehrheit der ländlichen Dienstboten und Tagelöhner lebte in drückender Armut. Diese «Armennoth» griff Gotthelf in seiner gleichnamigen sozialpolitischen Schrift von 1840 auf. Er propagiert darin die christliche Lehre vom Haus als Mittel der Armutsbekämpfung: Der bäuerliche Hausherr sollte gegenüber seinen Bediensteten wie ein Vater auftreten und sie zu späterer Selbständigkeit anleiten, das Gesinde seinerseits sollte gehorsam und treu dienen.
Der 1841 in Zürich und Frauenfeld im Verlag von Christian Beyel erschienene Roman «Wie Uli, der Knecht, glücklich wird» spielt die in der «Armennoth» skizzierte Erziehung exemplarisch am Protagonisten durch: Unter Anleitung seines überaus frommen Meisters gelingt dem Waisenkind Uli ein beispielloser sozialer Aufstieg vom armen, verschuldeten Knecht zum Pächter eines der größten Höfe im ganzen Bernerland. Der Roman vereint Elemente des Bildungsromans mit solchen der alten christlichen Form der Bekehrungsgeschichten. Obwohl er durchaus zu erkennen gibt, dass Ulis Werdegang ganz und gar außerordentlich ist, monierten zeitgenössische Kritiker, das Buch mache armen Mägden und Knechten falsche Glücksversprechen.Nach der sehr erfolgreichen Edition im Berliner Verlag von Julius Springer (1846), die im Gegensatz zur Beyel-Ausgabe eine Kapiteleinteilung aufwies, avancierte der «Uli» zu Gotthelfs «bekannteste[m]» Roman (Hanns Peter Holl), seinem «klassische[n] Buch» (Walter Muschg). 
Die längste Zeit war sowohl für die Forschung wie auch für Lizenz- und Taschenbuchausgaben allerdings die Textfassung der »Sämtlichen Werke« von 1921 maßgeblich, obwohl diese Ausgabe weder den Originaltext der Beyel- noch denjenigen der Springer-Ausgabe bietet. Sie beruhte zwar auf dem bei Beyel erschienenen Text, übernahm aus der Springer-Ausgabe aber die Kapiteleinteilung; außerdem wurden Orthografie und Interpunktion modernisiert und Dialektschreibweisen vereinheitlicht. Mit der von Barbara Berger herausgegebenen HKG-Edition ist der erste »Uli«-Roman, von dem kein Manuskript überliefert ist, nun endlich wieder im unverfälschten Wortlaut der bei Beyel erschienenen Erstausgabe lesbar.

April 2021

Als Mitarbeiter an der Forschungsstelle Jeremias Gotthelf hat Dr. Lukas Künzler die Neuedition eines der wichtigsten Romane der Zwischenkriegszeit mit einem einordnenden Nachwort in der Reihe «Schweizer Texte» vorgelegt. Unterstützt wurde er bei der Textedition von Eveline Wermelinger. «Der doppelte Matthias und seine Töchter», 1929 erschienen und 1941 unter der Regie von Sigfrit Steiner verfilmt, ist eine Brautschaugeschichte unter umgekehrtem Geschlechtervorzeichen. Fünf eigenwillige Bauerntöchter, die auf dem abgelegenen Hof ihres verwitweten Vaters Matthias Stump aufwachsen, wehren nicht nur schmalbrüstige Verehrer ab, sondern mit vereinten Kräften auch andere Eindringlinge, die es wagen, die Marken des Ruchegg-Hofes zu übertreten. Meinrad Lienert gilt als einer der Begründer der Schweizer Mundartdichtung. Sein Band über «Schweizer Sagen und Heldengeschichten» (1914) machte ihn zu einem viel gelesenen Dichter. Sein umfangreiches, volkstümliches Werk ist allerdings mittlerweile in Vergessenheit geraten. Lienert war aber keineswegs ein heimattümelnder Schriftsteller, dessen Werk sich im Kontext einer der Geistigen Landesverteidigung verpflichteten Kulturprogrammatik ohne Weiteres politisch instrumentalisieren liess. Der Charakter des Protagonisten wird von ihm bewusst so geformt, dass er die didaktische Stossrichtung des Werks, die Achtung vor dem Selbstbestimmungsrecht des schollenverbundenen Bauerntums, überlagert. Nicht zuletzt deswegen lohnt sich eine Lektüre des «Doppelten Matthias» auch heute noch.

April 2021

PD Dr. Jesko Reiling hat in Zusammenarbeit mit Eveline Wermelinger die «Kiltabend-Geschichten» des Solothurner Schriftstellers Alfred Hartmann (1814–1897) in der Reihe «Schweizer Texte» des Chronos-Verlages publiziert; bereits 2015 erschien in derselben Reihe Hartmanns Roman «Meister Putsch und seine Gesellen». Alfred Hartmann galt im 19. Jahrhundert als einer der bedeutendsten Schweizer Autoren. Seine Zeitgenossen hielten ihn für den solothurnischen Jeremias Gotthelf; mit seinen «Kiltabend-­Geschichten» begründete er seinen literarischen Ruf. In seinen vorwiegend im solothurnischen Jura spielenden Dorf­geschichten bietet er ebenso heitere wie tragische Einblicke in das Leben des Landvolks und berührt viele Facetten des Alltags. Generationen­konflikte, Partnersuche der Landjugend, gesellschaftliche Probleme wie Armut, Alkoholismus oder soziale Spannungen zwischen Stadt und Land werden geschildert, aber auch humoris­tische Eskapaden des Soldatenlebens während des Sonderbundskriegs gezeigt oder unheimliche Volkssagen berichtet. Die Neuedition der «Kiltabend-Geschichten» enthält einen Stellen­kommentar und ein Nachwort von Jesko Reiling, das die Konstellationen des literarischen Feldes im 19. Jahrhundert erläutert und die in den 1840er-Jahren rasch populär gewordene Gattung der Dorfgeschichte beschreibt. Zudem wird die zeitgenössische Rezeption der Erzäh­lungen vorgestellt.

März 2021

Der Roman Der Geltstag ist erschienen: Jeremias Gotthelf erzählt in diesem Roman die Geschichte der Wirtin Eisi, welche nach dem durch die Trunksucht verursachten Tod ihres Mannes mit ihrem heruntergewirtschafteten Wirtshaus „vergeltstagt“ wird. Das Wirtshaus steht „auf der Gnepfi“ („auf der Kippe“), eine treffende fiktive Ortsbezeichnung für den schwankenden ökonomischen Zustand, in dem es sich befindet. Doch nicht nur der Finanzhaushalt, sondern auch der moralische Zustand des Wirtepaars ist zweifelhaft. Aufgrund der haltlosen Geschäfts- und Lebensführung muss die Witwe das verschuldete Wirtshaus einem Nachlassverfahren unterziehen lassen und geht schliesslich Konkurs. Das Wort „Wirthschaft“ bezeichnet bekanntlich nicht nur die Ökonomie im Allgemeinen, sondern auch eine Einrichtung zum Verzehr von Speis und Trank. Ausgehend vom konkreten Erfahrungsraum eines Gasthauses überführt Gotthelf den lehrhaften Gehalt des Romans in aufklärungskritische Kommentare. Den Grund für das Debakel „auf der Gnepfi“ sieht er erstens in der „neumodischen“ Bildung, die als oberflächliche Schnellbleiche Hochmut und Hoffahrt fördere und den echten Bildungsauftrag des Lebens verpasse. Zweitens kritisiert Gotthelf das liberale Menschenbild des Radikalismus, das am Bedürfnis des Menschen nach Gesetzen vorbeiziele. Dies gelte gerade auch für Wirtshäuser, die mit dem Alkoholausschank zum schädlichen Zeitvertreib einlüden und als verfehlte Bildungsstätten dienten. Dabei beanstandet er neben den verheerenden individuellen und sozialen Auswirkungen auch die Folgen für die gesamtwirtschaftliche Wohlfahrt. Dass in der „neumodischen“ Lebensführung vieler Menschen sozusagen Hopfen und Malz verloren sind, wird an der Causa auf der Gnepfi exemplarisch vorgeführt. Am Ende bleibt die Hoffnung, dass eine neue Generation heranwachse, die sich von den Altvätern bilden lässt. Die neue Edition des Romans verantwortet Barbara Berger.